21 kommentar comment Ebene mit Aldi, Lidl, REWE, Spar etc. Die Autoren räumen allerdings selbst ein, dass die Tafeln keine Wirtschaftsunternehmen sind, weil eine wirtschaftliche Organisa- tion der Lebensmittelspenden durch den Lebensmitteleinzelhandel nicht planbar sei. Die Tafeln seien in ihrer Tätigkeit auch nahezu ausschließlich nicht auf geschultes Personal, sondern auf ehrenamtliche Hel- fer angewiesen. Aufgrund des täglichen Zeitdrucks seien aufwändige Dokumen- tationen und Analysen nicht möglich. Bei Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums müssten die Tafeln aber eine Neubewer- tung für die Haltbarkeit durchführen. Bei Kennzeichnungsfehlern von Etiketten, z. B. Pfirsichjoghurt statt Kirschjoghurt, müsse aus rechtlichen Gründen auch eine Umetikettierung stattfinden, falls keine Ausnahmegenehmigung vorgelegt werden könne. Wichtig sei auch die Allergenkenn- zeichnung. Die Tafeln würden weiterhin den Anforderungen der Verordnung über die Lebensmittelsicherheitskultur unterlie- gen.15 Darauf will ich nicht näher eingehen, da die Tafeln weder eine Betriebsleitung noch festangestellte Mitarbeiter haben. Natürlich muss die Lebensmittelsicherheit bei der Versorgung der Bedürftigen ge- währleistet sein. Sie ist es auch. Die Tafeln beachten die gesundheitlichen und hygieni- schen Anforderungen, auch in Kooperation mit der Lebensmittelüberwachung, der hier eine besondere Verantwortung zukommt. Die Lebensmittelsicherheit ist weiterhin durch das Engagement der vielen ehren- amtlichen Helfer gewahrt, die aus ethi- schen und sozialen Gründen sich selbstlos zur Verfügung stellen, um den Menschen zu helfen. Auf die Qualität der Lebensmit- tel wird geachtet. An den Ausgabestellen werden die Menschen auch über die Ab- weichungen, die gegenüber den handelsüb- lichen Produkten, also bei Fehletikettierun- gen bestehen, informiert. Mit Schreiben vom 21. Januar 2019 hat das deutsche Bundesministerium für Er- nährung und Landwirtschaft darauf hinge- wiesen, dass die Erteilung von Ausnahme- genehmigungen bei der Abweichung von Kennzeichnungsvorgaben offensichtlich rechtswidrig ist. Dies bedeutet, dass auch beispielsweise nur rein formale Informati- onsfehler wie Schriftgrößenregelung oder Sichtfelderfordernisse zur absoluten Ver- kehrsunfähigkeit der Produkte führen. Die- se können dann auch nicht an Tafeln abge- geben werden, da auch Tafeln, wie zuvor aufgezeigt, bei der Abgabe vorverpackter Lebensmittel sämtliche Informationspflich- ten einhalten müssen. Die Welt der Menschen, die bei den Tafeln versorgt werden, ist eine andere als dieje- nige der Verbraucher, die Nahrungsmittel selbst kaufen können. Nach den allgemei- nen Zielen der Lebensmittelinformati- onsverordnung soll die Bereitstellung von Informationen über Lebensmittel einem umfassenden Schutz der Gesundheit und Interessen der Verbraucher dienen und ih- nen eine Grundlage für eine fundierte Wahl und die sichere Verwendung von Lebens- mitteln unter besonderer Berücksichtigung von gesundheitlichen, wirtschaftlichen, um- weltbezogenen, sozialen und ethischen Ge- sichtspunkten bieten.19 Diese Wahl haben die Menschen an den Tafeln nicht. Sie sind darauf angewiesen, das zu erhalten, womit sie an den Ausgabestellen versorgt werden können. „Die Tafeln berichten, dass sie die Not der Menschen, die bei ihnen Schlange stehen, nicht mehr bewältigen können. Es gibt Wartelisten. Die Tafeln sind Lebens- mittelausgabestellen für Leute, die sich ein normales Einkaufen nicht mehr leisten können. Es ist bitter nötig, dass es so etwas gibt, weil sonst viele hungern würden, und es ist bitter, dass es in einem Sozialstaat so etwas geben muss.“20 Die dramatische Situation zeigt sich beson- ders am Beispiel der Münchner Tafel. Seit Anbeginn der Pandemie hat die Münchner Tafel einen Zuwachs von etwa 10 Prozent an Bedürftigen registriert. Derzeit werden etwa 22.000 Tafelgäste mit gespendeten Lebensmitteln unterstützt. Hierzu gehören unter anderem von Altersarmut betroffene Rentner, entwurzelte Menschen, Flüchtlin- ge, Personen mit schweren Schicksalsschlä- gen, kinderreiche Familien, Alleinerziehen- de, Arbeitslose, physisch oder psychisch Kranke. Über 800 Ehrenamtliche setzen sich 365 Tage im Jahr für die Arbeit der Münchner Tafel ein. Darunter mehr als 100 Fahrer und Beifahrer. An 28 Ausgabestel- len, die sich flächendeckend im gesamten Stadtgebiet befinden, werden die Lebens- mittel jede Woche an Bedürftige verteilt. Jede Woche werden ca. 125 Tonnen Le- bensmittel, die qualitativ einwandfrei sind, aber im Wirtschaftsprozess nicht mehr ver- wendet werden können, z. B. Überproduk- tionen oder Verpackungsfehler, verteilt. 19 Lieferfahrzeuge, davon 17 Kühltransporter zählen zur Fahrzeugflotte der Münchner Tafel. Zudem werden viele private PKW zum Einsammeln und Verteilen der Lebens- mittel eingesetzt. Die Flotte der Münchner Tafel fährt wöchentlich ca. 800 Abhol- punkte an. Ca. 100 soziale Einrichtungen werden in München mit Lebensmitteln beliefert. Unter anderem Frauenhäuser, Mutter und Kind-Häuser, Klöster, Notun- terkünfte, Einrichtungen für AIDS- und Drogenkranke, Streetworker, Wohngemein- schaften für psychisch Kranke, staatliche und städtische Gemeinschaftsunterkünfte und Schulen.21 Wie man eine solche Organisation mit den Handelskonzernen gleichsetzen kann, ist mit gesundem Menschenverstand nicht mehr zu begreifen. Es kann nicht sein, dass einwandfreie Lebensmittel wegen geringer Kennzeichnungsmängel nicht abgegeben werden dürfen und vernichtet werden müs- sen, „um dem Gesetz“ Genüge zu tun. „Ge- braucht werden dagegen schnelle, flexible und unbürokratische Lösungen für kleine und große Probleme. Gefragt sind deshalb Politiker und Beamte mit Orientierung, die Werte erkennen, Verantwortung überneh- men und die Folgen ihres Handelns ein- schätzen können, Pragmatiker, keine Dog- matiker“.22 E. „Denn die einen sind im Dunkeln und die anderen sind im Licht“24 Das deutsche Brotmuseum in Ulm hat im Jahre 2000 einen Bildband mit der Dar- stellung des Hungers in der bildenden Kunst von 1900 bis 1950 herausgebracht. In der Einleitung heißt es: „Die im Dun- keln muss man heute woanders suchen, nämlich in den wenig entwickelten Län- dern unserer Welt. Dies ist der Grund, weshalb das deutsche Brotmuseum das Thema aufgreift zu einem Zeitpunkt, zu dem es in unserem Land keinen existenz- bedrohenden Hunger mehr gibt und die Zahl derer, die sich an die Zeit vor mehr als 50 Jahren zurückerinnern können, ständig abnimmt.“ Hunger ist aber auch nach Deutschland wieder zurückgekehrt. Selbst Brot wird für viele Menschen zur Mangelware. Täglich werden 2 Millionen Menschen an den Lebensmitteltafeln ver- sorgt, das ist keine Minderheit. Hunger bedeutet mehr als unzureichende Nahrungsaufnahme, sondern führt zum Verlust der psychischen und physischen Gesundheit des Menschen. Kein anderes volume 47 | 06. 2023 ERNÄHRUNG | NUTRITION